mit dem zug in die alte heimat
jedes mal, wenn ich fahre, und ich fahre selten, neugier und verwunderung über neues.
eine weitere bahnstation auf der strecke, weggefallene haltepunkte.
die ortschaften und städte, die, eingekeilt zwischen bahnlinie und bundesstrasse, aufeinander zuwachsen und die gewerbegebiete mit ihren einmal rin alles drin-zweckbauten miteinander teilen. jedes mal sind mehr windräder auf den hügeln gewachsen.
weinberge gibt es immer noch. winterkahle reihen hügelabwärts wie mit dem lineal gezogen, von der bundesstraße oder einem quer laufenden hohlweg geschnitten; richtung bahnlinie und fluß von feldern abgelöst, in denen im sommer mais steht oder rüben, manchmal getreide. in den selten gewordenen senken winken ausgeblichene schilfbüschel. in trockenen monaten werden die felder bewässert, das zick-zick-zick der drehpumpen läuft manchmal im april schon.
ich nehme mir vor, im frühjahr wieder zu kommen, wenn jede zweite rebenreihe gefüllt ist mit leuchtendem löwenzahn und die schlehen in hängen und gräben duftende wolken sind.
angekommen wecke ich das haus, ziehe läden hoch, öffne fenster, lasse wasser laufen und lese zählerstände ab. begrüße im hof jedes büschel lerchensporn, das sich zärtlich vermehrt hat. steche suppentellergroße stachelbiestige distelrosetten aus.
auch das löwenmaul hat überlebt. ich überlege, es umzusetzen, aber um die wurzel zu schonen müsste ich zwei backsteine heben, was einarmig, solange der gebrochene arm noch in der schlinge ist, heute nicht geht.
auf dem friedhof verstecke ich blumenzwiebeln unter dem efeu wie ein eichhörchen nüsse und hoffe, dass der frühling sie findet.
ein eisiger schauer treibt mich vom kirchberg herunter. am liebsten würde ich mich zu den schneeglöckchen ducken, aber man sah mir schon arwöhnisch zu, als ich am grab wunderkerzen abbrannte, aber nachher die kerze nicht anbekam (der wind war zu stark).
den nachmittag über sitze ich bei verwandten. wir lassen im erzählen unsere alte gasse auferstehen.
frau s, die ich immer um ihren garten beneidete mit seinem riesigen schleierkrautstrauch, der mit tiefroten rosen vor ihrem taubenblauen schuppen wuchs. so schön wollte ich auch einen garten. schleierkraut hatten wir nie.
die alte frau e "die wurde über 100!", als greisin dement und kindisch (zum glück! als kinder fürchteten wir ihre boshaftigkeit), tante p mit den hasen, g's jugend und meine kindheit in den gassen, radfahren lernen auf schotterstraßen, hühner im hof, zweitweise ein schwein, die kinderschulterschmalen reule in andere höfe, wo wir uns besuchten und spielten.
die hühner, sich balgend um nudelreste von mittagessen, die vom küchenabfluss direkt in den hof durch's "flösschen" schwammen.
an was wir uns schweigend erinnern: die gerüche. vieh und stroh, nasse briketts, atmende lehmkellerkühle, ungelöschter kalk im plumpsklo gegen die maden.
was
anzuhören am schmerzlichsten ist: die pein und das schreckliche
siechtum und sterben der schwiegermutter, krepierend an unterleibskrebs
in windeln voll blut, kot und verfaulendem fleisch. wie muss dieser
fluch die schamhaftigkeit der tiefgläubigen katholikin verhöhnt haben,
von allen krankheiten ausgerechnet mit gebärmutterkrebs geschlagen zu
sein.
wir gehen die nachbarschaft durch. die m's, schweigsam und freundlich, "waren denn h's nicht verwandtschaft?" "doch, aber die zogen früh weg". familie sch, getroffen mit selbstmord und wahnsinn. frau a, die so gut schneidern konnte, mit ihrem immer gleichen typ frauenverachtenden liebhabern. "warum bloß? sie war doch nicht dumm. hässlich auch nicht."
später im gespräch fällt die antwort "sie war gutmütig. zu gutmütig. auch zu den ekeln".
schwalben unter den giebeln. erste modernisierungen von mistkauten zu regelmäßig geleerten abwassergruben, schließlich gab es kanalanschlüsse, wurde die straße geteert.
fast keiner lebt mehr dort. auch meine verwandten wohnen in einem anderen ortsteil. die einen zu alt, weggezogen die andern, gestorben, die häuser verkauft, der schöne garten mit einem klotzigen mietshaus bebaut, andere gärten geteilt, voller häuser gestellt. kein baum mehr, kein strauch.
die hausgesichter noch abweisender zur straße zu als sie früher schon waren, giebelständig, daneben verschlossene tore.
in den höfen: parkplätze. keine schwalben mehr unter den giebeln.
während wir reden tobt sich aprilwetter im januar aus. vor dem fenster zum norden ein rüttelnder falke über den feldern, dahinter spannen sich zwei regenbögen; der vordere so funkelnd und strahlend, dass er unecht erscheint. leuchtreklame des himmels. farbiges hologramm.
vor dem westlichen fenster treibt regen im spitzen winkel, silberne fäden, theatralisch von der sonne bestrahlt.
als es aufklart, gehe ich, erinnerungssatt, voller lachen und weinen und reden. dankbar. umarmt.
danke an dieses stück heimat, das meine wurzeln verwahrt, die erinnerung meiner nackten füße an sommerpudrigen lehmstaub, backsteingepflasterte höfe und weich ausgetretene sandsteinstufen, an schwalbenrufe und wettsprünge von hofmauern in tiefer liegende gärten, den singenden klang der holztreppe in großmutters haus, an die menschen, die meine kindheit begleitet, behütet, bewacht haben vor so langer zeit.
ebenfalls ein nachgetragener text aus dem januar 2023.
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