Gestern auf dem Rückweg vom Garten ein Autofahrer, der abbiegend eine große Kurve um mich fährt und der Fahrer winkt wild. Ich stutze, bremse, steige ab: Familie O. !
Sie bugsieren sich in eine Parklücke und purzeln alle aus dem Auto. Ich lande in vier lachenden liebevollen türkischen Umarmungen und wir räufeln im Schnellverfahren die letzten Jahre auf. Die mitgekommene Cousine schaut nur mit staunenden Augen zu.
Familie O hatte zur Kindergartenzeit unserer Krötchen einen Obst- und Gemüseladen an der Ecke, also drei Häuser weiter. Ihre und unsere Kinder sind gleichaltrig. Wenn ich von der Arbeit kam, war der erste Blick der in Hof und Garage, die Roller, Bobbycars und Dreirädchen zählen. Mal waren Alle bei uns, mal Alle im Laden, mal Alle rollend und kletternd rund ums Carree unterwegs.
Irgendwann in den frühen Schuljahren der Kinder gaben die O's den Laden auf, es war einfach zu anstrengend, vom Großmarkt morgens um Vier bis am Abend um Acht im Laden zu stehen, von einem Familienleben ganz zu schweigen.
Danach verloren wir uns aus den Augen.
Und heute umarmen mich zwei junge Frauen und erzählen von Oberstufe und der Sinnlosigkeit einer G8-Mittelstufe, vom Studium auf Lehramt, herzt mich die Mama und wir verabreden uns, wenn sie wieder aus dem Urlaub kommen und sogar der Papa drückt mich. Die Mädchen sind offen, mitteilsam, herzlich, selbstbewusst. Schöne, liebevolle, aufmerksame junge Frauen. Ich freue mich riesig. Zum Abschied fünf Umarmungen und ich radle herzsatt nachhause.
Waren wir mit 17, 18, 20 Jahren auch so? So selbstbewusst? So stark?
Ich glaube sie sind viel weiter, als wir es waren. Offener. Direkter.
Am letzten Schultag bin ich meinem Kind in der Stadt mit noch ein paar KameradInnen begegnet, die ich ja nun auch schon ein paar Jahre kenne.
Auch da die Erkenntnis, sie sind ganz schön weit, diese jungen Erwachsenen. Sie sprechen aus, was wir in diesem Alter vielleicht nur dachten.
Das Gefühl, "fffft, die 11 ist grade so geflogen. Und jetzt kommen wir in die 12! Wir sind die Großen." "Ich bin stolz auf uns", sagt der Junge, "wir haben alle gute Noten." "Ich bin stolz auf Euch," sage ich, "weil Ihr ab der Mittelstufe jedem Anflug von Mobbing energisch entgegengetreten seid." (Das stimmt; sie waren wirklich gut. Wehrhaft. Aufrecht. Und sie haben ein Klima von Respekt geprägt, Respekt für jede Persönlichkeit und Psyche, ihre so verschiedenen ethnischen Herkünfte, hetero oder queere Orientierungen. Sie haben einen Umgangston geprägt, der sie auch weiter durch die Oberstufe tragen wird.)
"Jetzt seid Ihr die Großen und seid Tutoren und Klassenfahrtbegleiter der neuen Fünfer und gebt das weiter." "Stimmt", sagen sie und grinsen, "wir sagen ihnen, wo der Hammer hängt."
Ist das nicht klasse?!
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Morgens um 11 in Maastricht auf der Kuppelumgang des Bonnefantenmuseums stehen und über Stadt und Land schauen. Neben mir eine Transfrau. Um die Dreissig denke ich. Sehr schlank, Beine bis zum Hals, knallroter Lippenstift, mörderische High-Heels, schwarze Langhaarperücke, ein grünes Lederjäckchen. Am etwas kantigen Kinn, an den muskulös dünnen Beinen in schwarzen Jeans sieht man den früheren Männerkörper.
Ich denke spontan "Lawrence Anyways" - der fulminante wunderbare Film von Xavier Dolan über eine Transfrau, der vom Lehrer zur Schriftstellerin die Person Lawrence Anyways viele Jahre begleitet. Die Verpuppung, der Schmetterling. Ein genialer Film. Eine köstliche Kameraführung - allein die erste Szene an der Schule in Frauenkleidung ist der Knaller. Die Kamera folgt dem Rücken der Person, den Schultern, dem kleinen Hintern in einem perfekt geschnittenen Kostüm, den Schritten in Absatzschuhen, den Blicken rechts und links von den Fluren und bleibt schliesslich im Hintergrund der Klasse stehen, Kamerablick nach vorne, auf den Lehrer, der nun als Lehrerin mit nach wie vor raspelkurzem Männerhaarschnitt vor der Klasse steht, die Mappe vor sich hält, abwartet, schweigt. Dolan lässt uns, lässt die Schulklasse minutenlang - ohne jede Filmmusik!! - aushalten, ausharren, bis sich eine Schülerin meldet und eine Frage zum Stoff stellt. Eis gebrochen.
All das geht mir in Sekundenschnelle durch den Kopf, als ich die Wange, Lippenstift, die Wahnsinnsschuhe sehe, das Lächeln, die Unterhaltung mit der Museumspädagogin beobachte. Was ein Wahnsinnsweg das sein muss, sich aus einem Leben aufzumachen in ein anderes, das man in sich spürt, das rauswill, rausdrängt, dem man das bisherige aber immer noch ansieht, immer ansehen wird.
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