Sonntag, 19. November 2023

auf der wirbelsäule der erde

Ich setze Schritt vor Schritt.

Schritt für Schritt gehe ich

auf den Knochen Trillionen Toter unter mir.

Alles unter meinem Fuß ist Humus aus Verstorbenem.

Mensch, Pflanze, Tier. Sogar Berg.

Setze Fuß vor Fuß, spüre

unter nackten Sohlen das Raunen rückwärtsgeschauter Unendlichkeit.

Nicht fassbar,

denn, stell Dir vor, alles ist, weil anderes zuvor vergangen ist.

Boden aus Ozean,

gefaltet, geschüttelt, vereist und wieder gefaltet zum Berg.

Ich ein Wimpernschlag

zwischen Zeitaltern vor und derer nach mir.

Jünger als jede versteinte Koralle

setze ich Schritt vor Schritt.

Schritt für Schritt gehe ich

auf Schotter, blindem Asphalt,

Kies, vergiftetem Boden,

nass schmatzendem Sand,

Lehm stäubend puderzart;

setze behutsam den Fuß zwischen Zerscherbtem

treppwärts im Rippenkäfig,

rutschend, schlingernd zwischen Schlamm und Geröll,

umgeben von Blut, Rauch und Geschrei.

Eingehüllt in Nebel, Schwefeldampf,

setze ich Schritt vor Schritt.

Schritt für Schritt gehe ich

bis der Kopf Wolken trinkt

in Gipfelklarheit und Kälte,

im Raunen der Geister und Ahnen

unter dem Sirren der Sterne.

Eine Wimper im Sturm bin ich nur.

Schritt vor Schritt

schon im nächsten Blick unsichtbar

gehe ich

auf der Wirbelsäule der Erde.  

 

Welch ein tröstliches Bild. 




© 19.11.23


Der Himmel ist ein großes Tier

Der Himmel ist ein schlafend' Tier

mit einem großen Atem.

Stemm Dich nicht ihm entgegen!

Wirf Dich in seinen Traum

dass Dich sein Atmen trage

den Vögeln gleich

und über dieser Welt. 

 

 


November 23

wir leben in unruhigen zeiten

 wie leben in unruhigen zeiten.

was nicht verbrennt

wird davon geschwemmt von tobenden flüssen, sturzregen.

wer nicht verhungert, verdurstet, ertrinkt

vor der festung europa, 

die selber im inneren brennt,

bleibt auf jahre gestrandet in zelten

ohne aussicht auf zuflucht und frieden

- und die nationalisten geifern schon wieder gegen jeden, der schutz sucht,

träumen von deportationen und reichskristallnächten II.

wir leben in unruhigen zeiten.

so wenig wespen war'n nie

und die mauersegler flohen den nasskalten juli.

jeden schmetterling, der nicht kohlweissling war,

begrüßte ich freudig,

auch den nachtfalter am morgen, der in der beuge der jacke schlief.

wir leben in unruhigen zeiten.

die freund:innen, deren haut dunkler ist und deren name kein müller, schmitt oder heinz,

egal, ob sie zwischen den gleichen mauern geboren und leben wie ich,

diese freund:innen haben den koffer gepackt,

jenen kleinen, neben der wohnungstür, 

mit den geburtsurkunden der kinder, fotos der eltern, medikamenten, pässen und bargeld.

mit adressen von freunden, verwandten und liebsten in sicheren ländern.

unser land ist ihnen nicht länger heimat.

wir leben in unruhigen zeiten.

noch brauche ich keinen koffer,

noch schützen mich name und haut,

noch denke ich unbesorgt laut

wo andere fürchten um leib oder leben, um freiheit.

wir leben in unruhigen zeiten,

teilen die kriege in gute und schlechte ein

und vergessen darüber die menschlichkeit.

wer ficht die kriege gegen unterernährung und wassernot? 

gegen die knebel aus saatgut+dünger+gift,

das die schädlinge in resistenzen, 

die menschen in hunger und die bauern in selbstmorde treibt?

wir leben in unruhigen zeiten,

wo der ewige frost aufhört ewig zu sein

und methanblowouts, schlammlawinen und milzbrand

vorgeschmack auf eine von vielen apokalypsen entbieten;

wo rottende, rostende gift- und atomfracht in meeren

sich anschickt, schleichend alles zu töten.

wir brauchen die reiter der apokalypse nicht.

wir töten uns selbst. 

 

© eva becker, 19.11.23