Montag, 6. Dezember 2021

Pfütze


Sie leuchtete von Weitem. Graublau wie der darin gespiegelte Himmel.
Eine tatzenförmige Pfütze vor dem eisernen Molengeländer mit seinem breiten Handlauf aus Holz.
Hinten gerundet, vorn drei U-förmige Einbuchtungen, die in spitzige krallenartige Abdrücke ausliefen. Mindestens drei Meter breit und gut einen Meter in der Länge.
Ein Abdruck wie ein letzter kraftvoller Schritt vor dem Sprung von der Mauerkrone der Mole in den sechs Meter tiefer liegenden Fluß.

Niemand beachtete das als Geste des Abschieds sorgsam auf dem Handlauf abgestellte Vogelnest.


Die tatzenförmigen Abdrücke oder Pfützen tauchten in den Wochen des trüben Dezember öfter auf.
Am Flussufer im Hafen, gegenüber der Marina mit ihrer segelförmigen Weihnachtsbeleuchtung, in der Matsche überfluteter Wiesen, auf dem Treidelpfad.
Eine weit draussen auf der äußersten Sandbank neben der Fahrrinne, zum großen Erschrecken eines Kutterkapitäns.

Was den Abdrücken vorangeht: Die Erschütterung des Bodens, das schwungvolle Sich-Lösen vom Asphalt, der Moment, in dem sich ein schwarzverzweigtes Etwas mitten im Sprung in ein riesiges Schwarz wandelt,
so für Sekunden den Himmel verdeckend umfassbar groß, dass sein Anblick für einen zufällig darunter geratetenen Menschen überwältigend ist, der Schock des Erblindens.

Danach: Nichts. Ein leises Kräuseln der Wasseroberfläche. Die Pfütze, die sich mit Wasser füllt.
Stille. Stille.
In dem beständig lauten Atem der Stadt eine Stille, die untergeht in der dröhnenden Taubheit all ihrer Bewohner.

 
Es dauerte bis in den Februar, als die Leute vom Grünamt die Platanen zu beschneiden begannen, als die Überflutung der Mainwiesen nachliess, bis das Fehlen einiger Bäume auffiel; und nochmals Wochen, bis selbst die Biologinnen begannen, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den unförmig großen tatzenförmigen Pfützen vom Winter und den verschwundenen Bäumen am Fluß.

Der Zusammenhang erschien ihnen ebenso unwahrscheinlich wie logisch.

An das sorgsam auf dem Geländer abgelegte Vogelnest erinnerte sich niemand mehr. Kinder hatten es mit nach Hause genommen, wo es nach einigen Tagen der Hund in die Pfoten bekam und zerkaute. 

 


 

 

© eva becker dezember 2021

2 Kommentare:

  1. du trägst einen wunderbaren knackigen Kopfsalat in deinem Kopf...
    möge er immer so frisch und saftig bleiben...
    starke Gedanken und Texte die wahnsinns poetisch aus dem Nichts des Netzes auftauchen...
    hab mich festgelesen...
    warum macht das eigentlich keiner heute mehr gerne..
    gute Gedanken und Texte lesen
    Phantasien anderen nachspüren...
    lernen wie andere denken können
    ohne verrückt zu werden...
    angel

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  2. knackiger kopfsalat. kicher. ich freu mich, wenn du dich hin und wieder festliest. die pfütze liegt grad bei einem freund, der ihre lesung musikalisch begleiten wird, das macht solche freude, zusammen etwas neues zu schaffen. hilft gegen verrückt werden...

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Wie war das - für Blogger sind Kommentare wie der Applaus im Theater - na denn, tut Euch keinen Zwang an! Ihr dürft pfeifen, trommeln, klatschen.... mit Euren Kommentaren isses hier nicht so einsam. Danke!
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