Sonntag, 21. März 2021

sog

 

es gab tage, an denen zerrte der sog stärker an ihr, war mit sinnen zu greifen, an anderen war er einfach nur da, wie wind oder ein hund oder das kleid, das sie trug.

wenn sie blicklos mit dem rad in eine kreuzung gefahren kam und haarscharf dem aufprall entgangen schreckte sie auf, hellwach durch den stich von adrenalin in der brust und ins tiefste erschrocken.

an anderen tagen lief sie wie blind durch läden, ging, fokussiert auf eine liste im kopf, regale entlang ohne zu sehen. fand das gesuchte doch und brach wehrlos in tränen aus.

tränen die kamen und gingen wie regen. die am bereitwilligsten flossen, sobald jemand, irgendwer, ein unbekannter am telefon, mit dem sich scherzen ließ, freundlich war, sie ansprach und hörte. sie spürte die ernsthafte zugewandtheit im sich ändernden klang einer stimme, in einem absichtlichen gespräch über nebensächlichkeiten, in dem plötzlich, unmittelbar wie ein sonnenstrahl nach gewitter, eine hautberührende nähe aufschien, aufschlug, detonierte und ihr innerstes verwüstend, sie haltlos schluchzend am tisch zurückließ.

am schlimmsten war es, nachts durch die spärlich erleuchteten räume zu gehn.

immer warf eine straßenlaterne, ein fremdes fenster licht genug, um die spiegel zu meiden. in der toilette den blick heben, mutprobe: sehe ich niemanden, bin ich tot. sie konnte sich sehen.

durch die küche ging sie nach draussen. der sog zerrte an ihrem gewicht. matt schimmerte das stahlgerüst der balkone, verlor sich stockwerke tiefer im hofdunkel, wo sie steinernes pflaster und den eisernen kanaldeckel wusste, erwartungsvoll schweigend.

wie weh tat es, wenn sie mit dem kopf auftraf? ob er zerbräche wie ein ei? oder landete man mit den füßen zuerst? halten die knöchel das aus? sie setzte sich auf einen stuhl, die beine zwischen balkonstreben gehängt.

nachtluft. klar. kühl. die geräusche der stadt, die nie still war. leise vielleicht. aber nie ruhig, so sehr sie es ersehnte. niemals ruhig.

der morgen fand sie mit steifem, schmerzendem hals und frierender haut. wie seltsam, dachte sie. draussen bin ich noch nie eingeschlafen.
sie stand auf und wollte ins warme. doch die balkontür war geschlossen und von den menschen, die drinnen herumgingen, hörte niemand ihr rufen. 

 

 

20./21.3.21

7 Kommentare:

  1. Ein sehr eindringlicher Text.
    Und sehr vorstellbar an schlechten Tagen-

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  2. Und ich kann hier auf eimnmal kommentieren- gut das ich es mal wieder versucht habe.
    Ich mag Ihren Blog so.

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  3. Hab ich jetzt erst entdeckt. Ganz wunderbar geschrieben. Toll! LG Carola

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    1. oh und ich finde den Kommentar jetzt erst. Ich danke.

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  4. ein eindrucksvoller Text der mich nachdenklich zurückläßt und der Gedanke, wer war sie geworden, und in welchem Zustand war sie als sie dies aufschrieb, rief und geradezu aus ihrem Schmerz der inneren Verlassenheit aufheulte?
    was ist aus ihr geworden, hörte sie jemand und half?
    wunderbar geschrieben auch wenn rätselhafte Fragen zurückbleiben...
    lieben Gruß angelface

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    1. Die rätselhaften Fragen gebe ich frei, mag sie denken, wer möchte. Danke Dir für deine vielen Kommentare!

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Wie war das - für Blogger sind Kommentare wie der Applaus im Theater - na denn, tut Euch keinen Zwang an! Ihr dürft pfeifen, trommeln, klatschen.... mit Euren Kommentaren isses hier nicht so einsam. Danke!
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