Samstag, 25. Februar 2023

die wagen ihrer mutter

es ist ein trübgrauer donnerstagmorgen als tess in den archivraum geht, akten einscannen. vor dem fenster ein fiat ducato, ein kastenwagen mit auffälliger werbelackierung, ohne fenster im kastenteil. die schiebetür öffnet sich und ein mann steigt aus. tess achtet mit fingerspitzendruck auf den scanner, der gerne papier doppelt zieht und sieht dem mann draußen zu. er hat schlabbrige shorts an, die unter dem steissbein hängen, nackte waden in schlappen, zu kalt für den februar. kurz überlegt sie, ob er im wagen geschlafen hat. 
als er nach vorne geht, die beifahrertür öffnet, sich hineinbeugt, noch mehr poritze zeigt, eine zigarette nimmt, sie das zickzickzick des feuerzeugs durchs geschlossene fenster nicht hören kann, aber trotzdem hört, rollt die geruchserinnerung wie eine woge über sie hin.

kalter zigarrettenrauch in einem auto, gemischt mit dem geruch von plastik, metall und benzin und, im wagen ihrer mutter, immer mit druckerschwärze.
ein bitterer geruch, sauer, kratzig und rauh.

tess schüttelt den kopf. so hatte der ockergelbe vw polo gerochen. lehmfarben wie die erde ihrer heimat. ein auto, dem man den dreck nicht ansah, das den ganzen sommer unter der zuckernden trauerweide stand und mit einer schicht läusesüß, strassenstaub und lehm bedeckt war, die die scheibenwischer nicht packten. dann musste ein eimer mit wasser her. in die waschstrasse fuhr die mutter nicht, lohnt sich nicht, da müsste ich dreimal durch bei dem bapp. im herbst gibt es regen.

der wagen war ihr dritter gewesen. ein notkauf, nachdem die mutter den funkelnagelneuen toyota, auf den sie so lange gespart hatte, an einem eisglatten herbstmorgen kopfüber durch ein feld pflügend zu schrott gefahren hatte, unversichert natürlich.
tess lebte zu dem zeitpunkt schon nicht mehr zuhause. sie war in ihrer alten studentenstadt in eine nichtraucher-WG gezogen, wo sie dennoch monatelang reflexhaft beim einkaufen ins zigarettenregal griff nach der marke der mutter. 

am wochenende war sie heimgekommen. der toyota fehlte und auf der treppe stand mutters einkaufskorb, schlammverschmiert. was ist passiert, fragte sie. die mutter erzählte, wie der wagen bei glatteis weggeschleudert war und sie auf dem kopf stehend, die brennende zigarette noch immer in der hand, zum stehen gekommen war. es könnte benzin ausgelaufen sein, hatte sie gedacht und die kippe konzentriert im wagenhimmel ausgedrückt.

der wagen war futsch, das geld auch. der unfassbar schielende tankstellenmann, eine seele von mensch von drei zentnern, der sie schon jahrelang kannte, hatte mitleid und einen alten polo im hof, den er ihr günstig verkaufte. sie fuhr ihn jahrzehnte.
druckerschwärze, abgasmief, fahrzeugplastik, das roch, wie fahrzeugplastik in den siebzigern gerochen hatte und nikotin.
eine schmierige schwarze schicht, die innen auf der windschutzscheibe klebte. war sie beschlagen und man wischte darauf herum wurde sie nur noch schlieriger und alle ärmel, taschentücher und lappen waren schwarz.

der erste wagen war eine ente gewesen. mutters protest gegen die stigmatisierung im ort, gegen scheele blicke und getuschel, geschiedene frau, alleinerziehend (wenn man die großmutter vergaß, die tess jahrelang mittags mit essen versorgte, ehe sie sich, selbst schon über siebzig, zum mittagsschlaf hinlegte und das mädchen seine schularbeiten machen hieß). tess' mutter arbeitete in einem männerberuf, in dem ihr keiner was vormachen konnte. sie war stolz. auf ihren job, auf ihre entscheidungen, auf ihr leben.

sie war 35 als der mann ging, oder von ihr gegangen wurde. tess war nie etwas erklärt worden zur trennung ihrer eltern. sie wurde vor vollendete tatsachen gestellt und der vater war weg. die mutter lernte mit 35 autofahren, fuhr wagemutig und schon in der fahrschule gerne zu schnell. ihr erster wagen, die knallgelbe ente, stand wochen im garten, bis die mutter den führerschein hatte. am abend saß sie im auto und übte die knüppelschaltung bedienen.

die ente war aufruhr und statement. aufgeklapptes verdeck, auf dem beifahrersitz bäume, die oben herauswehten oder tess' kumpel gerri, der sich auf den sitz stellte und majestätisch den fußgängern zuwinkte. sie lachten sich kaputt hinterher.
selbst der hund war auf das charakteristische motorengeräusch geeicht. brummte das gelbe getüm die einfahrt entlang, sauste er aus dem korb und stand wedelnd an der tür, bis die mutter im blaumann nach druckerschwärze und zigaretten riechend, hereinkam.

die ente war so klapprig und zugig, dass sie wenig nach auto roch. das ganze jahr über streuselte sie aus den lüftungsklappen im fond birkensamen auf jeden, der den fehler beging, die klappen zu drehen. sie war transportmittel und lastkarre; ächzte unter von abrisshäusern geklauten fensterstürzen aus sandstein, mit denen die mutter gartentreppen baute. sie liebten dieses auto, das selbst mit zerstörtem auspuff, wie ein traktor röhrend, noch fuhr, eine kaputte tür mit einer riesigen hellblauen schleife festgebunden.
als die reparaturen zu teuer werden drohten und die schäden zu häufig, hatte die mutter genug gespart für den kleinen schicken toyota.

dem 6 monate später der stinkende polo folgte.

tess schüttelt den kopf, versucht mit husten den geruch und geschmack von plastikstinkendem wageninnern, abgasen und nikotin loszuwerden, der hartnäckig wie schmieröl an ihrer erinnerung klebt.

der typ draussen am fiat sieht gleichgültig zu ihrem fenster, zieht seine shorts hoch und läuft die straße hinunter zur bäckerei.
 
 
25.2.2023



mit dem zug in die alte heimat

 mit dem zug in die alte heimat


jedes mal, wenn ich fahre, und ich fahre selten, neugier und verwunderung über neues.
eine weitere bahnstation auf der strecke, weggefallene haltepunkte.
die ortschaften und städte, die, eingekeilt zwischen bahnlinie und bundesstrasse, aufeinander zuwachsen und die gewerbegebiete mit ihren einmal rin alles drin-zweckbauten miteinander teilen. jedes mal sind mehr windräder auf den hügeln gewachsen.
 
weinberge gibt es immer noch. winterkahle reihen hügelabwärts wie mit dem lineal gezogen, von der bundesstraße oder einem quer laufenden hohlweg geschnitten; richtung bahnlinie und fluß von feldern abgelöst, in denen im sommer mais steht oder rüben, manchmal getreide. in den selten gewordenen senken winken ausgeblichene schilfbüschel. in trockenen monaten werden die felder bewässert, das zick-zick-zick der drehpumpen läuft manchmal im april schon. 

ich nehme mir vor, im frühjahr wieder zu kommen, wenn jede zweite rebenreihe gefüllt ist mit leuchtendem löwenzahn und die schlehen in hängen und gräben duftende wolken sind.

angekommen wecke ich das haus, ziehe läden hoch, öffne fenster, lasse wasser laufen und lese zählerstände ab. begrüße im hof jedes büschel lerchensporn, das sich zärtlich vermehrt hat. steche suppentellergroße stachelbiestige distelrosetten aus.
auch das löwenmaul hat überlebt. ich überlege, es umzusetzen, aber um die wurzel zu schonen müsste ich zwei backsteine heben, was einarmig, solange der gebrochene arm noch in der schlinge ist, heute nicht geht.

auf dem friedhof verstecke ich blumenzwiebeln unter dem efeu wie ein eichhörchen nüsse und hoffe, dass der frühling sie findet.

ein eisiger schauer treibt mich vom kirchberg herunter. am liebsten würde ich mich zu den schneeglöckchen ducken, aber man sah mir schon arwöhnisch zu, als ich am grab wunderkerzen abbrannte, aber nachher die kerze nicht anbekam (der wind war zu stark).

den nachmittag über sitze ich bei verwandten. wir lassen im erzählen unsere alte gasse auferstehen.
frau s, die ich immer um ihren garten beneidete mit seinem riesigen schleierkrautstrauch, der mit tiefroten rosen vor ihrem taubenblauen schuppen wuchs. so schön wollte ich auch einen garten. schleierkraut hatten wir nie.
die alte frau e "die wurde über 100!", als greisin dement und kindisch (zum glück! als kinder fürchteten wir ihre boshaftigkeit), tante p mit den hasen, g's jugend und meine kindheit in den gassen, radfahren lernen auf schotterstraßen, hühner im hof, zweitweise ein schwein, die kinderschulterschmalen reule in andere höfe, wo wir uns besuchten und spielten.

die hühner, sich balgend um nudelreste von mittagessen, die vom küchenabfluss direkt in den hof durch's "flösschen" schwammen.

an was wir uns schweigend erinnern: die gerüche. vieh und stroh, nasse briketts, atmende lehmkellerkühle, ungelöschter kalk im plumpsklo gegen die maden.

was anzuhören am schmerzlichsten ist: die pein und das schreckliche siechtum und sterben der schwiegermutter, krepierend an unterleibskrebs in windeln voll blut, kot und verfaulendem fleisch. wie muss dieser fluch die schamhaftigkeit der tiefgläubigen katholikin verhöhnt haben, von allen krankheiten ausgerechnet mit gebärmutterkrebs geschlagen zu sein.

wir gehen die nachbarschaft durch. die m's, schweigsam und freundlich, "waren denn h's nicht verwandtschaft?" "doch, aber die zogen früh weg". familie sch, getroffen mit selbstmord und wahnsinn. frau a, die so gut schneidern konnte, mit ihrem immer gleichen typ frauenverachtenden liebhabern. "warum bloß? sie war doch nicht dumm. hässlich auch nicht."
später im gespräch fällt die antwort "sie war gutmütig. zu gutmütig. auch zu den ekeln".

schwalben unter den giebeln. erste modernisierungen von mistkauten zu regelmäßig geleerten abwassergruben, schließlich gab es kanalanschlüsse, wurde die straße geteert.

fast keiner lebt mehr dort. auch meine verwandten wohnen in einem anderen ortsteil. die einen zu alt, weggezogen die andern, gestorben, die häuser verkauft, der schöne garten mit einem klotzigen mietshaus bebaut, andere gärten geteilt, voller häuser gestellt. kein baum mehr, kein strauch.
die hausgesichter noch abweisender zur straße zu als sie früher schon waren, giebelständig, daneben verschlossene tore.
in den höfen: parkplätze. keine schwalben mehr unter den giebeln.

während wir reden tobt sich aprilwetter im januar aus. vor dem fenster zum norden ein rüttelnder falke über den feldern, dahinter spannen sich zwei regenbögen; der vordere so funkelnd und strahlend, dass er unecht erscheint. leuchtreklame des himmels. farbiges hologramm.

vor dem westlichen fenster treibt regen im spitzen winkel, silberne fäden, theatralisch von der sonne bestrahlt.

als es aufklart, gehe ich, erinnerungssatt, voller lachen und weinen und reden. dankbar. umarmt.

danke an dieses stück heimat, das meine wurzeln verwahrt, die erinnerung meiner nackten füße an sommerpudrigen lehmstaub, backsteingepflasterte höfe und weich ausgetretene sandsteinstufen, an schwalbenrufe und wettsprünge von hofmauern in tiefer liegende gärten, den singenden klang der holztreppe in großmutters haus, an die menschen, die meine kindheit begleitet, behütet, bewacht haben vor so langer zeit. 
 



ebenfalls ein nachgetragener text aus dem januar 2023.




jeder gang ist ein neuer gang. ein nachgetragener text aus dem januar.

jeder gang ist ein neuer gang*

jeder gang ist ein neuer gang
je nach licht, wellengang, wasserstand, wolken.
in der senke suppt schlamm, von den letzten wellen auf den weg gespült.
fast gleichauf mit mir zieht schweigend ein schwarm flussmöwen über's wasser
nur das hfnüü hfnüü hfnüü ihrer flügel.
flussaufwärts landen sie
werden zu schaukelnden kreischenden federschiffchen mit entschlossenen gesichtern.

die sonne scheint winterblass milchig
kein licht für schatten

auf der petersau gegenüber liegt eine tote pappel umgestürzt
längs im wassersaum ihr leuchtend weißes astgerippe
arme im himmel im wasser.
über der insel stapeln sich zinngraue wolkenwalzen
im taunus regnet es schon.

ich gehe über matschiges, kurzgeschorenes, scheckig nachgewachsen, erfrorenes und wieder aufgerichtetes liegewiesengras, mache bögen um schimmelbepelzte kackhaufen 
und sehe hunden beim toben zu.
immer noch reste von sylvester:
zerfetzte chinaböllerkordelquadrate
raketenstangen aus angekokeltem holz
goldflittriger plastikkonfettischeiss.
ein paar sektkorken, die die kehrmaschine verfehlt hat,
unter die bröseligen samenstände vom vorjahr
zwischen winterdunkelgrüne blattrosetten gerollt.
gänseblümchen blühen schon wieder oder immer noch.
schmutzige schneeinseln ducken auf der schattenseite des spielplatzes
gelbgepieselte hundezeitung.
hellblaue masken in den zaun geweht
süßzeugpapierchen und dönertüten
scherben glitzern tückisch wie pfützen.

auf einem balkon balgen sich sieben distelfinken um die futterstelle
unwirklich bunt
die krähen schimpfen und die tauben balzen schon wieder. 
 
 
 
 
nachgetragener text vom 22.1.2023 
 
 
* damit morgen ein neuer gang eine neuer gang ist 
so lautet die schlusszeile des gedichtes "corsons inlet" von a.r.ammons. 
danke für die inspiration.
 

Sonntag, 19. Februar 2023

Monatsspaziergang

 Die liebe Kristina von "am liebsten bunt" lädt allmonatlich zum Spazierengehen ein. 

Mensch ist sozusagen eingeladen, wie sie schreibt,  "ein Stück der Umgebung in der ich mich gerade aufhalte, fotografisch zu dokumentieren. Dabei möchte ich versuchen, genau hinzuschauen, Schönes in Alltäglichem zu sehen und Details zu entdecken, die sich festzuhalten lohnen."

Nun denn. Seit Monaten will ich mitmachen und verpasse es ebenso regelmäßig.  Letzte Woche dann auf dem Heimweg Handy in der Hand statt im Rucksack. :-)

Einer meiner Wege nach der Arbeit führt mich, wenn ich möchte, am Rheinufer, an der Dauerbaustelle Nordmole entlang. 

Stilleben vor der Feuerwehr

Der Anblick des baumlosen Ufers ist immer noch ein Schock. Diese Leere! 

2017 hab ich den jüngsten der drei Bäume schon mal gezeigt

Jetzt nur noch Stummel. Es tut weh. Vor allem frage ich mich, ob die Fällaktion auf der Uferseite notwendig war, ich dachte nicht, dass diese auch bebaut werden sollte...


Große Traurigkeit. Drei großgewachsene Platanen weniger. An einem Ort, an dem eh kein Strauch, kein Baum, kein Schatten ist.
 

 

Ribbelige Wasserhaut.


 

Innenmole.

 

Einer der drei alten Kräne, früher war hier der Zollhafen, die stehen bleiben. Die Menschen sitzen, stehen, gehen, schlürfen Sonne. Es ist so ein ganz freundliches Nachmittagsgwusel und im Sonnenlicht richtig warm.

 

 

Kaimauerfundstück...

Börsentown

 

Sonntag vor 1 Woche aus Gründen die Familie nach Frankfurt verschleppt. Geburtstagswunsch: Senckenbergmuseum. Überraschung: Alle kamen mit. Froi. 

 

 

Davon gibt es keine Fotos, weil: Sonntag und Winter = Museum = VOLL  UND  LAUT

 

Danach entnervt, frischluftbedürftig und hungrig Stadtspaziergang und auf dem eisernen Steg Himmelsspektakel fotografieren. 



 Der Rest war Pizza, langsam bessere Laune, Heimfahrt, Himbeerquarktorte (hmpf, schleck, inhalier) 

Kommentar Kind 2 (das mit mir das Landesmuseum Wiesbaden samt dessen Naturkundeabteilung sehr liebt) : Dioramen und Schaukästen sind ziemlich "angestaubt" bis naja, Pelz und Federn lassend, das ist in Wiesbaden kleiner, aber viel schöner präsentiert.  Stimme 100% zu. 

Schön: Tiefsee, Wale und Dinos. Großes Kino. Und der Nachbau des Korallenriffs! 

Donnerstag, 16. Februar 2023

die letzten Tage so....

Was gibt es lekkereres an einem Wintertag, der zwar nicht schneereich&frostig, sondern nur nieselregnerisch&usselig kalt ist, als den Sommer aus der Tiefkühltruhe zu holen und in den Topf zu werfen? 

In unserer Rigaer Ferienwohnung hab ich am vorletzten Urlaubstag im Sommer aus kleinen aromatischen Marktheidelbeeren mit Zucker und Zimt eine Tasse Marmelade gekocht, die auf lettischen Bröselquark getropft einfach umwerfend schmeckte.  Quark dort hat die Konsistenz unseres Hüttenkäses/gekreuzt mit Schichtkäse, ABER, salzlos, und in allen Nass- bis Trockengraden von streichsanft bis schnittfest. So was von lekker. Kannste backen, kochen, aufs Brot streichen und ist mit Obst einfach ne Wucht.

Heute gab der Kühlschrank lediglich eine Handvoll TK Heidelbeeren her, deren lahme Süße nicht annähernd an das Aroma frischer wilder kommt, aber gedopt mit Blutorange und einem Hauch Zimt wird es dann doch hmmm, fingerschleck und auslöffel...  Ich träume mich zu den Rigaer Markthallen im Sommer.

 

Der Liebste hat alle Fernleihen für mich bestellt (schliesslich arbeitet er in einer Bibliothek, ne) und jetzt lese ich mich endlich durch Carolin Emckes "Journal", Sinthujan Varatharajahs "an alle orte, die hinter uns liegen";  Mohamed Amjahids "Let's talk about sex, Habibi" hab ich schon durch (Köstlich. Witzig. Erkenntnisreich) 

Bei Emcke möchte ich am liebsten mit Heft und Stift danebensitzen, ich mag ihre Sprache, ihre Rück- und Vorverweise, die Art, Schlüsse zu ziehen, längs und quer zu denken, etwas sozusagen öffentlich denkend einzukreisen, zu umkreisen, von vielen Seiten zu betrachten, in Frage zu stellen und sich einer Idee, einer Lösung, einer Frage, einem Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen kreisend, fragend, reflektierend, bezugnehmend zu anderen Denker:innen, zu nähern. 

Emcke wie Varatharajah und Amjahid folge ich schon länger auf IG, kluge Menschen, deren öffentlichem Nachdenken ich gerne hinterher- und mitdenke. Genauso wie Kübra Gümüsay und Theresa Brücker, Emilia Roig, Hadija Haruna-Oelker, Max Czollek, Amani Abuzahra und Ezra Karakaya aka Karakayatalks. Menschen, die unsere Gegenwart ausloten, sich und uns neu verorten, andere Rahmen abstecken, Horizonte erweitern, Sozialisation und Rassismen und dort verinnerlichtes ins Licht stellen und hinterfragen. Menschen, die mich, die uns lernen lassen.


Mit einer Freundin treffe ich mich, Michaela Müllers "Stoff trifft Papier", das ebenfalls per Fernleihe eintrudelte, zusammen durchzuschauen, ein, zwei Projekte auszugucken und dann gemeinsam bei Boesner zu versacken..... Mal sehen, was wir umsetzen werden. Der Nachmittag ist jedenfalls sehr lustig und lenkt mich von Migränewummer und Jobärger ab. Danke B!


Ali Manning & Amy Maricle veranstalteten einen workshop zusammen, japanese stab binding und botanical illustration - es war sehr nett, ich habe ein mir gefallendes Buch gebunden und mit Bambuspinsel und chinesischer Reibetusche, später mit Phtalatgrün von Klinger&Rohrer herumgespielt, aber das Projekt hat einen großen Haken: Sie haben die Vorgabe fürs Paper viel zu dick gemacht. Dadurch, dass sich bei dieser Bindung die Seiten nicht plan aufschlagen lassen - insbesondere bei dem kleinen Format und 120 g Papier  und 24 Seiten! - kann man ab Blatt 15 kaum mehr das Buch öffnen, um darin zu malen. Es braucht zwei Klemmen und dicke Beschwernisse, um die Seiten offen zu halten, die eine fatale Neigung haben, während frau rumpinselt, mittendrin zuzuklappen... 

Später hab ich noch eins gebunden, aber die Bögen vorher beschrieben/bemalt und es verschenkt. Nur zum Gucken ist es ja schön. Zum drin arbeiten halt nicht. 

Die Stabbinding journale, die mir eine Freundin aus Japan mitbrachte, sind allesamt aus zartem Reispapier, jede Lage mit dem Falz aussen, so dass es verbundene Doppelseiten sind, genäht wird auf der offenen Seite. (Da hätte dann wahrscheinlich die Tusche durchgeblutet.)


Der Mann kommt heim, Fahrradsturz, Kinn blutet, Hand geschwollen, Knöchel blutig und dick, Schulter verplotzt. Gulli frisst Vorderrad. Scheissspiel. 

 

Passen Sie auf sich auf, feiern Sie schön, falls Sie feiern, vergessen Sie die Erdbebenopfer nicht und nicht die Gefangenen im Iran, wir dürfen nicht nachlassen.



Mittwoch, 8. Februar 2023

Es ist hell!

 kalter morgen im februar

die sonne liegt noch unter'm horizont
aber der himmel! der himmel!
ach diese farben.
flugzeuge kratzen
sonnenstreifen frei aus zarten orangerosa, geschichtet unter aprikosengold,
das weiter obenhin verblasst, sich auswäscht in lichtes weissgrau, zerfliesst
und hoch
hoch oben ist die kuppel
hell, so hell!

die luft steht still. alles ist überscharf in diesem licht.
scherenschnitte schwarz vor dem mattbrennenden gold,
filigrane baumkronen, jede platanenbommel, jeder kleinste zweig,
hingetuscht die kugeln der brückenlaternen,
die möwen schwarze schiffchen, gespitzte heckfedern auf spiegelndem fluss.

ich trinke das leuchten
lasse mich
auffüllen damit
bis zum rand.
danke und segne das licht
immer wieder
das licht.

die pfützen sind gefroren.

23.000 sind gestorben, in syrien, kurdistan, türkei,
erdbeben, nachbeben, verschüttet, erfroren im frost, unter trümmern,
ohne hilfe, ohne obdach, ohne trost, ohne wasser, wärme, medizinische hilfe, ohne strassen und erdogan bombardiert die erdbebengeschüttelte region
kurdistan weiter! wo ist der aufschrei der welt?!

während ich hier
gedichte
über den himmel schreibe.

8.-11.2.2023 

 

spenden an https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/spenden/erdbeben-tuerkei-syrien

https://molhamteam.com/de/campaigns/439 

https://www.redcross.ch/de/unser-engagement/news-und-geschichten/erdbeben-roter-halbmond-und-rotes-kreuz-helfen-in-tuerkei-und-syrien

 Wichtige Hilfsorganisationen  für die kurdischen Gebiete, in denen die Türkei kaum hilft (heisst es von Einheimischen dort) : Heyva sor a kurdistane eV https://www.heyvasor.com/de/banga-alikariya-lezgin-ji-bo-mexduren -erdheje/

ebenso an medico international https://www.medico.de/kampagnen/spendenaufruf-nothilfe-erdbeben

Mittwoch, 1. Februar 2023

Ein neues Jahr. Wieder. Ein geheilter Ellbogenknochen. Endlich wieder das Licht.

 Seit dieser Woche arbeite ich wieder im Büro. Die Schlinge ist ab, der Knochen verheilt, jetzt müssen Muskulatur und Sehnen wieder in Gang gebracht werden.

Der Physiotherapeut ist ganz fröhlich "ach schön, Sie haben ja gar keinen Muskulaturverlust! Oh, und die Schulter ist frei! Und keine Anspannung, schön. Da hab ich schon ganz andres gesehen. Da hab ich schon ganz andres gesehen", brummt er, ehe er meine Muskeln und Sehnenansätze malträtiert, dass ich schier losschreie. "Nur Mut!" sagt er. "Machen Sie alles im Haushalt. Der wird wieder. Den kriegen wir wieder grade!" Nur nicht aufstützen, gell. Keine Liegestütze oder so Zeug. Machen Sie Sport?" Als ich verneine, kommt ein "muss ja nicht" 

"Ich fahre Rad und hab 600 qm Garten", sage ich, leise entschuldigend, "das reicht mir." Wir reden über Gärten, das lenkt mich aber kaum von den Schmerzen ab.

Leicht lädiert aber dennoch grinsend gehe ich nach Hause. 

Am Nachmittag setze ich die üblichen zwei Brotteige an, Teig 2 (das Experimentierfeld) diesmal, einem Tip von brotsamkeit folgend, mit (vegetarischem) Schmalz, ich streue noch Majoran und Thymian dazu und gebe die Pötte in den beleuchteten Ofen zum Gehen. Die Küche ist saukalt. 

Endlich möchte ich einen lange aufgeschobenen Brief schreiben. Kaum am Schreibtisch stoße ich die volle Teetasse um, alles schwimmt. 

Ich trockne und wische und lege Papiere zwischen und verziehe mich grummelnd, das Laptop im Schoß, aufs Bett. Pfft. Dann halt kein Brief. Nach der Wutzerei ist die Laune eh angefeuchtet mopsig...

Entdecke über Wieseltier das Blog Unendlichkeitsfiktion und lese mich fest und rückwärts. Hachz. Froi. 

Gegen neun sind die Teige groß genug, in die Formen gekippt zu werden. Der Schmalz-Majoran-Thymianteig riecht umwerfend! 

Jetzt backen drei Kastenformen voll Brot. Es duftet. Ich schreibe. 

Das Wetter ist unentschlossen, 8°, nasswindig seit 2 Tagen, davor war es eklig kalt. Durch die Nähe zum Fluss wird es kaum trocken-kalt, immer ist da eine Feuchte, die in die Kleidung kriecht, Spaziergänge klamm macht, unangenehm.

Heute morgen das Licht! 

Um 7.45 pünktlich läuten die Glocken, gehen die Strassenlaternen aus, leuchten die Fenster in den oberen Stockwerken hell auf, in meinem Rücken ein Sonnenaufgang, den ich nur gespiegelt ahne, es ist hell, hell, hell, mein Herz hüpft, in den kahlen Bäumen die Nester, über mir kakelnd die Krähen, Tauben hocken noch pennend zusammengeplustert in den Baumkronen, wie dicke kleine Scherenschnittfederpuschels gegen das Himmelslicht. 

Unten blühen Schneeglöckchen, Stiefmütterchen auch. Im Bürohof pflücke ich vom Guerillagardeningborretsch zarte weiche Blattohren für den Salat. 

Auf dem Küchenvordach in einer winzigen Kante wächst seit Jahren Schnittlauch (unerrreichbar in 4 m Höhe). Das kleine Fleckchen von einem Balkon herabgefallene Erde mit Samen hat über die Jahre Humus angesammelt, Moos siedelt drumherum, die Pflanze wird umfangreicher und hat den dürren Sommer überlebt, um im Frühherbst noch einmal zu blühen. Jetzt im Januar baumeln die abgestorbenen Halme herunter, das Moos ist regenstrotzgrün und der neue Schnittlauch treibt nach.

 

Die Brote sind durch. Aus den Formen schubsen und  10 min nachrösten. Hmmm.

Nun ins Bett. Gemischte Lektüre: Ovendens Bedrohte Bücher und Atwoods  Das Jahr der Flut. 

Bleiben Sie zuversichtlich. 

Im Iran werden Menschen gefoltert, malträtiert, vergewaltigt, gebrochen, zerstört. 

Wie harmlos, wie privilegiert, wie dankbar, über Brot und das Licht schreiben zu dürfen, ohne ins Gefängnis zu gehen.  

Lesen Sie Gilda Sahebi, Daniela Sepheri, seien Sie Ohr, werden Sie laut. Bleiben Sie aufmerksam.

Frau Leben Freiheit.  

 

Steuern auf Milliardenbesitze, Abschöpfung der Übergewinne,  keine SUVs - weder E noch Verbrenner (weil Monsterautos Ressourcenverschleuderung sind), kein Lebensmittelhandel an der Börse, keine Patente auf Saatgut und die Kohle bleibt drin.

...wenn ich mir was wünschen dürfte....