Mittwoch, 18. Oktober 2017

ich erinnere mich...

Über Frl ReadOn zu Charming quark zu wildgans, die es wiederum von John Brainard hat, lese ich in Erinnerungen Anderer und erinnere mich...

Ich erinnere mich an das Luftschutzbett meiner Großmutter im Badezimmer mit seinem hellblaugelben Frotteebezug, auf dem sich im Sommer kühl schlafen ließ.
Ich erinnere mich an den Geschmack von Tintenkiller und seinen Geruch an den Fingern.
Ich erinnere mich an Bergabfahrten mit scheppernden Rollschuhen und Bremsen per in die Hocke gehen und einen Fuß seitlich legen.

Ich erinnere mich an trunkene Geburtstagsfeste in Weinprobierkellern anderer Winzereltern.

Ich erinnerem mich an die Butzikatze, die ein Feldhamsternest aushob und alle im Garten ablegte (die letzten konnte sie garnicht mehr fressen vor satt).
Ich erinnere mich an den Genuß, sonnenwarme Kirschen zu essen bis zum Platzen (schlecht wurde mir nie).
Ich erinne mich an die Traubenlese im Herbst, den schwefligen Geruch der Blätter, das pelzige Gefühl in den Lippen, nachdem in den zehnten Hängel gebissen und abends an die Müdigkeit in den Knieen.
Ich erinnere mich an den hefigen Geruch der Weinlesezeit.
Ich erinnere mich an Milch holen mit der Henkelkanne und den Geschmack kuhwarmer Milch.

Ich erinnere mich an den ersten Kaiserschnitt und meinen Sohn mit dem blauen Füßchen, den sie mir über den Wandschirm zeigten. 
Ich erinnere mich an die Kuhle in der Wange meiner Mutter, in der auch in ihrem Sterben mein Mund und meine Küsse beheimatet waren.
Ich erinnere mich an die Hexenküsse meiner Großmutter, die einen mit dem Eckzahn zärtlich in die Wange nagte.
Ich erinnere mich, meine Uroma im Plumpsklo im Hof eingeschlossen zu haben - Riegel vorgeschoben und abgehauen.
Ich erinnere mich an den Geruch des Eissprays, mit dem mein Vater in den Innereien zerlegter Fernseher arbeitete. 

Ich erinnere mich an meinen ersten und einzigen Urlaub im Schnee. Schlitten fahren auf einem umgedrehten Tisch und im Graben landen. Der Geschmack vom Wasser des kleinen Baches der zwischen seinen eisbedeckten Ufern eilte. 

Ich erinnere mich an den Geruch von Omas Wachstuchdeke.
Ich erinnere mich, die Namen Jesus und Josef der spanischen Nachbarn meiner Großtante nicht auseinanderhalten zu können.

Ich erinnere mich an die vergiftete Luft, wenn mich Schweigen als Strafe traf, tagelang. An das verzweifelte Nachdenken, was ich falsch gemacht hatte. Und die Erleichterung, wenn diese Wolken dann abzogen.

Ich erinnere mich an nächtliche Radtouren.
Ich erinnere mich an eine Gänseschar, die den Hof eines Freundes bewachte.

Ich erinnere mich an Großmutters Sarg in der Aussegnungshalle. An meine Tochter, die grade laufen konnte und jeden Blumenkranz, jedes Gesteck besuchte. 
Ich erinnere mich an das Gefühl von schwappendem Blut in einer Schale, das mich in Tagträumen heimsuchte nach meiner Fehlgeburt.

Ich erinnere mich an brüllende furchtlose blindberserkernde Wutanfälle von Jähzorn. 

Ich erinnere mich an den Geruch in der Hundehütte und das tickernde Geräusch von Hundekrallen auf Holzboden. 

Ich erinnere mich an das Hochgefühl des Verschwundenseins, als ich nach der Schule zu einer Freundin ging und niemand wusste, wo ich war. Und das gleichzeitige Wissen darum, dass es nicht recht war.

Ich erinnere mich an Gewitter im Zeltlager, nachts, wenn Alle wach werden mussten und in die Blockhütte umziehen. 

Ich erinnere mich an Mopedfahrten, verbotenerweise, nachts und im Nebel über die Landstraßen. An das Vertrauen in meine Freunde, mit denen ich unterwegs war.

Ich erinnere mich an Partykeller und Tapeten in orange-braun-und-weiss. An Schulterpolster und Discofox. An den Abschlussball der Tanzschule und das Gefühl, den viel zu tiefen Ausschnitt zuhalten zu wollen.

Ich erinnere mich an die Zärtlichkeit, mit zwei Kindern in einem Bett zu schlafen. 

Ich erinnere mich an mein türkisches Meer.

Ich erinnere mich....

7 Kommentare:

  1. Neugierig geworden, musste ich schnell deine und die anderen Erinnerungen lesen. Festgestellt, dass die Strafe des Anschweigens nicht nur bei mir üblich war. Dass jeder so seine harten Schicksalsschläge zu verdauen hat. Dass das Weintrinken auf Festen ( die Reste, unterm Tisch in der Cousinenschar ) dazugehört. Und Milch von der Kuh. Luftschutzbetten ( und kratzige Decken, die ich später bei Josef Beuys wiederentdeckte ).
    Jetzt gehe ich aber träumen.
    Gute Nacht!
    Astrid

    AntwortenLöschen
  2. boah, was hast du für viele, detaillierte erinnerungen!! und mutig von dir, sie zu erzählen. ich glaube, ich habe keine lust, viele der meinigen wieder hervorzukramen. einige tun heute immer noch weh und machen wütend, nicht nur die vergiftete luft, die auch in meiner familie des öfteren zu tage trat.
    liebe grüße
    mano

    AntwortenLöschen
  3. ...eine Fülle an Erinnerungen, liebe Eva,
    danke fürs Teilen...einige erinnern mich auch...manche möchte man wohl lieber vergessen...so langsam kommen wir in das Alter, da es mehr Erinnerungen gibt...wenn in meinem Kopf durch ein Stichwort eine "Schublade" aufgeht, quillt sie schier über...

    liebe Grüße Birgitt

    AntwortenLöschen
  4. Ich erinnere mich... Erste Frage: Warum? Also den Links folgen. Auf das Buch stoßen. Es googeln und unbedingt haben wollen. Die anderen Blogbeiträge lesen. Dann wieder Deinen. So viele detallierte Erinnerungen. Und schon ist es ansteckend: Woran erinnere ich mich...
    Lieben Gruß
    Katala

    AntwortenLöschen
  5. Was für viele Erinnerungen hochkommen, wenn man es einfach zulässt...
    Liebe Grüße
    Andrea

    AntwortenLöschen
  6. Ja, sie sind in uns, die Erinnerungen, und alle verdienen es auch mal an die Oberfläche zu kommen. Vielleicht ist aufschreiben ein guter Weg. Auf jeden Fall werde ich auch das Buch lesen. Danke dir und liebe Grüße Ghislana

    AntwortenLöschen
  7. Meine Arbeit ist geschafft, und ich komme jetzt nochmal her, um in Ruhe zu lesen. All deine Worte sind nichts für Zwischendurch... so viel Persönliches, so berührend, nachdenklich machend, eigene Erinnerungen auslösend. Danke dir dafür!
    Liebe Grüße Ulrike

    AntwortenLöschen

Wie war das - für Blogger sind Kommentare wie der Applaus im Theater - na denn, tut Euch keinen Zwang an! Ihr dürft pfeifen, trommeln, klatschen.... mit Euren Kommentaren isses hier nicht so einsam. Danke!
Wenn Ihr auf meinem Blog kommentiert, werden die von Euch eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. Eure IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findet Ihr in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google (https://policies.google.com/privacy?hl=de)
Ihr könnt Euren eigenen Kommentar jederzeit selber löschen oder durch mich entfernen lassen.
Kommentare, die Direktlinks zu unbekannten bzw. unersichtlichen Seiten ( ohne erkennbare URL-Adresse ) beinhalten, werden von mir aus Sicherheitsgründen direkt gelöscht.